Ein Dialog der Gehörlosen

Rückblick und Kommentar von Kafalo Sékongo zum Gespräch im Kultusministerium am 04. April 2023 anlässlich des umstrittenen Einsatzes der Pflichtlektüre „Tauben im Gras“

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Als Pflichtlektüre für die beruflichen Schulen in Baden-Württemberg wurde „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen ausgesucht. Dieser im Jahre 1951 erschienene Roman, in dem unterschiedliche Biografien vorkommen, beschreibt die Zustände und Alltagssituationen im Nachkriegsdeutschland. Der Schauplatz ist München in Süddeutschland.

Diese Pflichtlektüre löste massive Kritik aus. Jasmin Blunt, eine Deutschlehrerin aus Ulm, fungiert dabei als Fahnenträgerin der Kritikwelle. Sie weigerte sich, dieses Buch mit ihren Schüler*innen behandeln zu müssen und ließ sich beurlauben. Sie startete eine Online-Petition, um das Buch aus dem Abitur zu streichen, die tausende von Unterzeichner*innen fand. Das baden-württembergische Kultusministerium argumentierte dagegen, dass das Buch als Lektüre geeignet sei, unter anderem, weil Lehrer*innen eine entsprechende Fortbildung bekommen hätten, um adäquat das Buch im Deutschunterricht zu behandeln. Dennoch wurde die Kritik immer lauter und bekam auch Unterstützer*innen aus der Mehrheitsgesellschaft.

Das Kultusministerium hatte daraufhin am 4.4.23 zu einem einstündigen Gespräch eingeladen. Meiner Meinung nach mit der Intension ein Ohr für die ganze Bevölkerung in ihrer Diversität zu haben. Am Tisch saßen hauptsächlich Gäste aus der BIPoC-Community (Fußnote 1). Zusätzlich waren von der Ministerin zwei weiße Professoren der Literaturwissenschaft eingeladen. Sie sollten wissenschaftlich und literaturtheoretisch aufzeigen bzw. legitimieren, warum der Einsatz dieses Buches gerechtfertigt sei.

Nach dem Willkommenswort erklärte Frau Ministerin Schopper die Bedingungen, unter denen das Buch als Pflichtlektüre ausgewählt wurde: einerseits sei es durch eine unabhängige 10-köpfige Kommission zugelassen worden. Andererseits hätten 500 Lehrkräfte an 60 freiwilligen Fortbildungen teilgenommen, damit das Buch zum Einsatz kommen konnte. Das Ministerium lege großen Wert darauf, dass die Schule ein wichtiger Ort der Demokratie und der Vielfalt bleibe. Eine klare Kante gegen Rassismus zu zeigen, sei die Leitperspektive. Man möchte miteinander reden und nicht übereinander, daher wurde auch dieses Treffen initiiert. Es gehe nicht darum, die Kritiker*innen des Buches zu überzeugen, sondern Positionen aus der Wissenschaft aufzuzeigen.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs kam ein Professor der Literaturwissenschaft, der seine Promotionsarbeit über Wolfgang Koeppen geschrieben hatte, zu Wort. Hier werde ich ihn Professor A nennen. In seinem Input stellte er fest, dass zu dem Moment, als der Roman erschienen ist, Rassismus nicht problematisch gewesen sei und es keine Kritik gegen den Roman gegeben hätte. Begriffe wie das N-Wort seien damals normal gewesen. Er hätte auch am Tag des Gespräches selbst im Raum Wörter wie das N-Wort weiter ausgesprochen, wenn ihn da nicht die Reaktion der anwesenden Rassismusserfahrenen: „Das N-Wort wird hier im Raum nicht ausgesprochen!“, sofort gestoppt hätte.

Er konnte sichtlich schwer damit umgehen, aber riss sich zusammen, um der Forderung der anwesenden BIPoC nachzukommen. Kurz um, Professor A fand das Buch nicht rassistisch und befürwortete seine Verwendung als Pflichtlektüre. Als Reaktion auf seinen Input erinnerte ihn eine Schwarze Person im Raum, dass Rassismus immer schon problematisch gewesen sei, damals wie heute. Der Kontext sei nicht der Gleiche, die Konstellation der Gesellschaft ist nicht mehr die Gleiche. Was gestern salonfähig war, müsse es heute nicht sein.

Der zweite Literaturwissenschaftler zugegen war ein Professor der Germanistik. Ihn werde ich in diesem Bericht Prof B nennen. Sein Input bestätigte im Wesentlichen die Position des Vorredners. Er bewertete das Buch allein auf Basis seiner vermeintlich wissenschaftlichen, theoretischen Qualität und zeigte in keiner Weise Verständnis oder Empathie für die Betroffenen. Dass manche Kinder durch den unsensiblen Umgang mit rassistischer, dehumanisierender Sprachgewalt bei dieser Pflichtlektüre Traumata und Retraumatisierung ausgesetzt werden, schien ihn nicht zu stören. Was ihn aber störte und wofür er kein Verständnis zeigte, ist die Haltung der Menschen, die den Einsatz des Buches anprangern und dessen Entzug aus dem Curriculum wünschen.
Nach dem Empfinden des Literaturwissenschaftlers Prof. B wäre ein Entzug von „Tauben im Gras“ als Pflichtlektüre gleich zu stellen mit der Bücherverbrennung der Nazis! Abschließend sagte er, er sei sich zu Anfang des Gesprächs noch nicht sicher gewesen, ob das Buch bleiben solle oder nicht, aber nach dem Gespräch sei er jetzt davon überzeugt, dass dieses Buch unbedingt durchgesetzt werden müsse.

Diese Einstellung der beiden Professoren zeigt wohl, wie weit noch der Weg ist, bis die Perspektive von Betroffenen ernst genommen wird, wenn sie eine Situation als rassistisch und verletzend wahrnehmen und entsprechend benennen.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs gab es zahlreiche fundierte Beiträge von Menschen mit Rassismuserfahrung, aber auch von weiß positionierten Personen ohne Rassismuserfahrung.

Die Vertreter*innen von AfroKids international erhoben ihre Stimme gegen die Verletzung von Menschenrechten durch die Erniedrigung von Menschen, wie sie die Weiterbenutzung des N-Wortes auslösen kann. Sie führten an, man solle sich eher mit Themen beschäftigen, die die Gesellschaft zusammenbringen, anstatt sie zu spalten. Sie wiesen u.a. auf eine Ausgabe der Zeitschrift „Bürger und Staat“ von der LpB (Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg) hin, in der Schwarze Menschen Rassismus reflektieren.

Die ISD Stuttgart (Initiative Schwarze Menschen in Deutschland) bedauerte zuerst, dass die Lehrerin Jasmin Blunt, die als erste die Kritik durch ihre Online-Petition in die Öffentlichkeit getragen hatte, nicht am Tisch war. Die Vertreter*innen von ISD Stuttgart argumentierten klar gegen den Einsatz von “Tauben im Gras“, weil das Buch rassistisch, antisemitisch und sexistisch sei. Sie bat darum, sich doch auch einmal in den Zustand der Betroffenen (Lehrer*innen und Schüler*innen) hineinzuversetzen, die sich trotz seelischer Schmerzen mit erniedrigenden und dehumanisierenden Begriffen befassen müssten.

Die LpB Baden-Württemberg, mit weiß positionierten Vertreter*innen beim Gespräch anwesend, drückten vorsichtig ihre Sorgen aus. Sie fanden kritisch, dass ein Roman, der Anfang der 50er Jahre geschrieben wurde, heute mit der gleichen Brille gelesen wird.

Das EPiZ Reutlingen, vertreten durch Kafalo Sékongo und Divine Umulisa, bedankte sich bei der Ministerin für die Einladung, brachte aber das Bedauern zum Ausdruck, dass diese Debatte erst stattfindet, nachdem der Roman „Tauben im Gras“ als Pflichtlektüre für berufliche Schüler*innen bereits zugelassen worden ist. Mit Blick auf die Zusammensetzung der 10-köpfigen Kommission, die das Buch bewertet und zugelassen hatte, wollte Kafalo Sékongo wissen, wie die Repräsentativität, der von Rassismus betroffenen Menschen, in der Kommission war. Diese Frage blieb unbeantwortet. Zu den Anführungen der Literaturwissenschaftler merkte er an, dass es in dieser Debatte nicht um den literarischen Wert des Werkes ginge, sondern um Rassismus und Emotionen, welche die Verwendung des N-Wort im Schulkontext auslöse. Diese Emotionen seien vielleicht nicht von allen zu verstehen, aber Emotionen müssten nicht verstanden werden, um sie zu respektieren. Zum Schluss ermutigte Kafalo Sékongo die Kultusministerin: „Frau Schopper, Sie werden mit dem Kultusministerium aufgrund Ihrer Machtposition diese Konfrontation mit der BIPoC-Community sicher gewinnen. Aber dieser Sieg wird für Sie ein Triumph ohne Ruhm sein. Sie haben die Möglichkeit, noch größer herauszukommen, wenn Sie dafür sorgen, dass dieses Buch - wie die Kunstausstellung Documenta - zurückgenommen wird.“
Divine Umulisa fragte die Ministerin, was sie zu verlieren hätte, wenn sie die Zulassung dieses Buches zurücknehmen würde und es durch ein anderes ersetzen würde? Diese Frage blieb auch unbeantwortet.

Die Vertreterin vom TANG e.V., eine promovierte Germanistin, legte als letzte Rednerin den Fokus auf ihren Kampf und den ihrer Organisation, die Verwendung des N-Wortes in der Schule und in Deutschland zu verbieten. Es wäre daher kontraproduktiv, dass eine Pflichtlektüre die Verwendung dieses Wort wieder salonfähig mache.

Die Stunde war schnell vorbei und man merkte deutlich, dass die Menschen gerne weiter diskutieren wollten, auch wenn manche Aussagen sehr unangenehm waren und wie Messerstiche auf viele der anwesenden BIPoC wirkten. An dieser Stelle muss ich anmerken, dass eine Person dieser Community manche Argumentationen nicht mehr aushalten konnte und aus Selbstschutz den Raum verließ. Die Ministerin versprach weiter im Austausch zu bleiben.

Der Vergleich des Entzuges der Pflichtlektüre „Tauben im Gras“ mit der Bücherverbrennung der Nazis von Prof. B war sehr verletzend. Mich persönlich hat es allerdings nicht überrascht, denn es ist ein Teil der Strategie von vielen weißen Personen, um BIPoC einzuschüchtern, wenn diese Rassismus kritisieren. Ihre Überreaktion dient als Mittel, um das Opfer von Rassismus, das es wagt, seine*ihre Stimme zu erheben, zum Schweigen zu bringen. So kann man, wie die Autorin Tupoka Ogette zu Recht sagt, als weiße Person die Privilegien des „Happy Land“ ungestört weiter genießen.

Nach dem Gespräch habe ich mich lange mit jeder Aussage beschäftigt. Sowohl im Zug als auch später im Auto war ich sehr beschäftigt mit diesem Gespräch. Meine Gedanken gingen von einem Beispiel zum anderen und ich wägte in Gedanken ab, wie wir der Gegenseite unsere Position anschaulicher hätten machen können.

Am Ende bin ich zum Schluss gekommen: Wir konnten uns gar nicht verstehen. Und hier werde ich bildhaft sprechen. Verzeihen Sie die Brutalität der Symbolik, aber manchmal muss man den Finger in die Wunde legen, auch wenn es unangenehm ist. Dieses Beispiel ist das einzige, das meine Gefühle am deutlichsten nach diesem Gespräch beschreibt.

Der Einsatz von „Tauben im Gras“ mit seiner ungefilterten rassistischen, antisemitischen und sexistischen Sprache im Unterricht ist für mich vergleichbar mit dem Einsatz von einem Video als pädagogisches Material, in dem eine Frau vergewaltigt wird. In diesem Unterricht sitzen allerdings auch Geschwister, Kinder und Enkelkinder dieser Frau. Die Lehrkraft hat dieses Video extra ausgesucht, um dem Thema sexualisierte Gewalt auf den Grund zu gehen. Als die Geschwister der Frau und ihre Kinder aus selbstverständlichen Gründen gegen den Einsatz dieses makabren Videos protestieren und sich weigern es anschauen zu müssen, werden sie zu einem Gespräch mit Sexualwissenschaftlern eingeladen. Während die Verwandten der vergewaltigen Frau ihre Argumentationslinie mit Menschenrechten, Moral und Ethik aufbauen, loben die Sexualwissenschaftler das Video auf der Basis seiner guten Qualität und der hohen Leistungen des Vergewaltigers.

Aus dieser übertragenen Perspektive gesehen, konnten wir uns nicht verstehen und haben uns deshalb auch nicht verstanden.

Über die Rolle der Wissenschaft habe ich mir auch Gedanken gemacht. Ich musste leider feststellen, dass der Mensch nicht viel aus der Geschichte lernt. Damals haben korrupte und manipulierte weiße Wissenschaftler*innen Gräueltaten, wie Sklaverei, Menschenhandel, Kolonialisierung und letztendlich Rassismus mit ihren „Rassentheorien“ legitimiert. Der neu erschiene Kinofilm „Der vermessene Mensch“ (Fußnote 2) vom deutschen Regisseur Lars Kraume zeigt, wie Wissenschaftler*innen für die eigenen egoistischen Interessen und Privilegien bereit waren, jedes moralische Prinzip aufzugeben. Heute in der Debatte um „Tauben im Gras“ habe ich den Eindruck, die vermeintliche Neutralität und Integrität der Wissenschaft wird - den Verhältnissen entsprechend - wieder ausgenutzt, um den Einsatz einer rassistischen Lektüre in der Schule zu rechtfertigen und durchzusetzen.

Aber ich möchte nicht pessimistisch erscheinen. Ich habe die Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholen wird. Wir dürfen es nicht zulassen. Weitere Treffen müssen folgen, auch mit der Beteiligung von Wissenschaftler*innen der Rassismusforschung aus der BIPoC-Community. Last but not least, wünsche ich mir ausdrücklich, dass sich mehrere Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft positionieren, denn Rassismus ist ein kollektives, gesellschaftliches Problem. Um ihn zu überwinden, zählt jede einzelne Stimme.

1) BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) - Die Abkürzung BIPoC steht für Black, Indigenous and People of Color (auf deutsch: Schwarze und Indigene Menschen und People of Color). Es handelt sich um eine politische Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrung machen. (EPiZ/ Glossar Globaler Jahresplaner 2022: https://www.epiz.de/files/epiz/inhalt/medienservice/Publikationen/GlobalerJahresplaner2022/BtE_BW_GlobalerJahresplaner_Klimagerechtigkeit_Begleitmaterial_dt_fin.pdf, Zugriff am 17.04.2023)
2) Der vermessene Mensch ist Kinofilm über das deutsche Kolonialverbrechen. Regisseur Lars Kraume erzählt zum ersten Mal von einem düsteren Erbe: dem Genozid an den Herero und Nama und weitere Verbrechen, die Deutschland im heutigen Namibia begangen hat. Ein Film aus der Täterperspektive. https://www.dw.com/de/der-vermessene-mensch-kinofilm-%C3%Bcber-deutsche-kolonialverbrechen-in-namibia/a-65090695, Zugriff am 16.04.2023)

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