Die schmale Grenze zwischen „optischer Belastung“ und „Remigration“

Porträt von Kafalo Sékongo

Ich habe beschlossen diesen Artikel zu schreiben als Beitrag zu den aktuellen Protesten gegen die rechte Radikalisierung in Deutschland. Am 27. Oktober 2023 hat die Stadtverwaltung von Sigmaringen eine sogenannte offene Gemeinderatssitzung organisiert. Zu dieser Sitzung waren die Einwohner*innen der Gemeinde in die Stadthalle eingeladen. Sie sollten Stellung zur Schließung oder nicht Schließung der Landeserstaufnahmestelle (LEA)[1] der Stadt Sigmaringen nehmen.

Unter den hochrangigen Gästen war auch Frau Marion Gentges, baden-württembergische Ministerin der Justiz und für Migration. Nach der Begrüßung durch den Bürgermeister der Stadt erhielt die Ministerin das Wort. Diese machte in ihrer Rede deutlich, dass die Schließung keine Angelegenheit der Stadtverwaltung oder gar des Ministeriums sei. Sie erklärte, dass die Migrationspolitik Teil einer gemeinsamen europäischen Strategie sei und dass alle europäische Staaten zusammenarbeiten sollten, um eine globale Lösung zu finden. Sie nannte auch Zahlen der Migration in Deutschland, die im Vergleich zu anderen Ländern deutlich niedriger waren. Diese Migrant*innenzahlen sorgten bei den Befürworter*innen der LEA-Schließung für Irritationen, da diese offensichtlich in ihren Narrativen höhere Zahlen gewöhnt sind. Folglich buhten einige von ihnen die Ministerin zeitweise sogar aus, während andere ihre Hinweise auf die Migrationszahlen als Lügen bezeichneten. Der Bürgermeister, der die Sitzung moderierte, musste einige Personen zur Ordnung rufen, um einen höflichen und respektvollen Ton während des Austauschs aufrechtzuerhalten. Trotzdem blieb die aufgeladene Stimmung im Raum spürbar. Die meisten der im Gemeinderat vertretenen politischen Fraktionen sprachen sich für eine Schließung der LEA oder eine drastische Reduzierung der Zahl ihrer Bewohner*innen aus. Das Hauptargument für die Schließung der LEA war, dass die Einwohner*innen von Sigmaringen durch zu viele Migrant*innen belastet wären. Aus diesem Grund würden bereits einige Wähler*innen drohen, bei den nächsten Wahlen rechts zu wählen.

Die Fraktion der Grünen im Gemeinderat - im Gegensatz zu den anderen Fraktionen - plädierte für mehr Empathie und Akzeptanz für die Geflüchteten.  Sie erinnerte daran, dass die meisten Menschen in der LEA nicht zum Spaß nach Deutschland kämen, sondern aus Not, da sie vor Krieg geflüchtet sind. Der Sprecher der Grünen sieht die Lösung der Migrationsproblematik in einer strukturellen Veränderung auf Makroebene.

Dann wurde das Wort an das Publikum übergeben.  „Das war für mich die Stunde aller Superlativen“ so beschrieb mir S. Maozik, (anonymisiert), ein Teilnehmer mit Migrationsgeschichte sein Empfinden während der Beiträge des Publikums am Redepult. So viel verbale Gewalt, mangelnde Wertschätzung und Dämonisierung von  Migrant*innen auf einer öffentlicher Veranstaltung hatte der junge  Mann noch nie erlebt.

In der Tat versuchten improvisierte „Staatsanwält*innen“ an diesem Abend die Anwesenden zu überreden, dass die Migrant*innen allein für alle Probleme der Stadt Sigmaringen und ihrer Einwohner*innen verantwortlich seien. Die Tochter einer Frau würde sich nachts nicht mehr auf die Straße trauen, weil ihr einmal ein Migrant im Vorbeigehen die Hose heruntergezogen hätte.  Eine andere behauptet, dass ihr Auto zerkratzt worden sei, was nur das Werk untätiger Migranten sein könne. Eine weitere Rednerin, die sich durch den Beifall einer Art Fanclub beflügelt fühlte, meinte, die Migrant*innen seien faul und würden sich weigern zu arbeiten oder die deutsche Sprache und Kultur zu lernen. Sie schlug deshalb vor, man solle sie alle im Asylheim einsperren und sie von 8 bis 18 Uhr mit irgendeiner Art von Arbeit beschäftigen, damit sie lernen, was Arbeiten heißt, aber auch die deutschen Werte kennenlernen und akzeptieren.  Die Mietpreise seien durch diese Migrant*innen ebenfalls gestiegen und die Einheimischen hätten Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, da die Eigentümer*innen ihre Wohnungen lieber an Migrant*innen vermieten würden... Und schließlich kam dieser andere Sprecher, der sich darüber beschwerte, dass es zu viele Menschen mit Migrationsgeschichte in Sigmaringen gäbe. Wenn man in ein Geschäft gehe, dessen Namen ich nicht nennen möchte, stellt man fest, dass von 60 Kunden 50 darunter Migrant*innen seien, was eine unerträgliche „optische Belastung für die Einwohner*innen der Stadt darstellen würde!“. Dies bedarf keines weiteren Kommentars. Eine andere Rednerin versuchte in einer surrealen Hirngymnastik, die Vorteile der kulturellen Vielfalt zu dekonstruieren. Basierend auf einem Zitat, dessen Autor ich nicht mehr weiß, versuchte sie zu erklären, dass Diversität „die lokale Rasse (hic)“ zerstören würde, da sie es ihr nicht ermöglicht, sich ohne Einmischung „anderer Rassen“ zu entwickeln.  „Aber das hat nichts mit Rassismus zu tun,“ fügte sie kaltblütig hinzu.

Ich persönlich bin ein Mensch, der in jeder Situation versucht die Ruhe zu bewahren. Aber nachdem ich diese surrealen Argumentationen, Unterstellungen und Vorwürfe gegen Migrant*innen anhören musste, war ich entsetzt. Zumal die Geflüchteten nicht mal im Saal vertreten waren, um ihre Version der Ereignisse zu schildern. Wenn man bedenkt, dass in einem fairen Verfahren selbst der zum Tode Verurteilte das Recht auf das Wort und einen Anwalt für seine Verteidigung hat, kann man nur erschrocken und besorgt sein, was die Zukunft dieses Landes anbelangt.

Ein junger Student ergriff zum Glück das Wort, um die Hetze gegen Migrant*innen anzuprangern. Er erinnerte daran, dass Deutschland qualifizierte ausländische Arbeitskräfte braucht und dass es diese Migrant*innen sind, welche die unattraktiven Jobs hier im Land machen, die kein deutscher Jugendlicher annehmen würde. Es sind zum Beispiel die LEA-Bewohner*innen, die für 80 Cent pro Stunde den Müll auf dem Campus einsammeln. Die mangelnde Kommunikation zwischen den LEA-Bewohner*innen und der lokalen Bevölkerung, sowie die Angst vor dem Fremden wurden von einem der wenigen Menschen mit Migrationsgeschichte auch angeprangert. An diesem Tag habe ich mich ebenso zu Wort gemeldet, um zu sagen, was ich von all diesen Unterstellungen halte. Aber da ich nicht ausreden durfte, werde ich es hier tun. Zunächst möchte ich mich bei den wenigen Redner*innen bedanken, die es gewagt haben, sich für das Recht auf Migration auszusprechen.  Ich möchte auch betonen, dass ich denjenigen nichts vorwerfe, die sich gegen Geflüchtete bzw. Migrant*innen ausgesprochen haben, denn ich weiß, dass dies aus Unwissenheit geschieht. Sie sind sich nicht bewusst, dass das Migrationsproblem ein globales Problem ist, dessen Lösung eine umfassende Strategie und entsprechende tiefgreifende strukturelle Veränderungen erfordert. Wissen diese Menschen, dass die Privilegien, die sie genießen, nur möglich sind, weil die entwickelten Länder, in denen sie leben, die so genannten armen Länder ausbeuten? Wissen sie, dass diese systematische Ausbeutung der Ressourcen der ärmeren Länder eine wichtige Fluchtursache ist? Wissen sie, dass die Kriege, vor denen diese Menschen fliehen, durch Waffen angeheizt werden, die von ihren Ländern hergestellt und verkauft werden?

Wissen sie, dass hochrangige Politiker*innen der Bundesregierung die ganze Welt bereisen, um ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, die den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften hier im Land ausgleichen sollen? Wissen sie, dass der Pflegedienst in Deutschland zum größten Teil von Migrant*innen am Laufen gehalten wird? Ist ihnen bewusst, dass wenn sie selbst alt werden und womöglich von den eigenen Kindern in ein Altersheim geschickt werden, täglich von diesen Menschen gepflegt und versorgt werden?  Haben sie die geringste Ahnung, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass die letzte Umarmung oder Zärtlichkeit, die sie erhalten werden, bevor sie diese Welt verlassen, von einer Person ausländischer Herkunft kommt, die man heute als "optische Belastung" bezeichnet?

Und wissen sie, dass es ein Verstoß gegen die Würde des Menschen ist, wenn sie Migrant*innen als „optische Belastung“ entmenschlichen? Ist es ihnen bewusst, dass sie mit diesem Ausdruck den Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar mit den Füßen zertreten? Man könnte Fragen dieser Art unendlich stellen. Deshalb möchte ich nicht weiter fragen, sondern einige Antworten und Anmerkungen als Aufklärung formulieren.

Es ist vor allen Dingen nicht gerecht, alle Migrant*innen anhand eines einzigen Falls als faul oder arbeitsunwillig zu bezeichnen. Es ist gut zu wissen, dass die Art des Aufenthaltsstatus einer asylsuchenden Person entscheidend dafür ist, ob sie arbeiten darf oder nicht. An dieser Stelle scheint es mir wichtig, daran zu erinnern, dass die meisten jungen Afrikaner*innen z.B. nur deshalb nach Europa kommen, weil sie hier arbeiten wollen, um ihren eigenen sozialen Status, aber auch und vor allem den ihrer Großfamilie in der Heimat zu verbessern.

Machen Sie sich nichts vor: Niemand riskiert sein Leben auf den gefährlichen Fluchtwegen über Wüste und Meer mit dem einzigen Ziel, sich in einem deutschen Asylheim niederzulassen und sich mit dem wenigen Taschengeld zufrieden zu geben. Darüber hinaus würden sie die Kredite nicht zurückzahlen können, die sie vor, während und nach der Reise aufnehmen mussten. Ohne Arbeit könnte man seine Familienangehörigen in der Heimat nicht finanziell unterstützen und letztendlich die eigene Lebenssituation verbessern. Die häufigsten Gründe, weshalb Migrant*innen nach Deutschland kommen, sind die Suche nach Sicherheit und nach besseren Existenzgrundlagen durch fair bezahlte Jobs.

Wenn wir die ausbeuterischen Strukturen und Wirtschaftssysteme ändern und sie durch gerechtere sowie nachhaltigere ersetzen, werden sich die Länder des Globalen Südens harmonisch nach eigenem Modell entwickeln können. Die Menschen, die hier als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet werden, würden in den Fabriken und Unternehmen ihrer jeweiligen Länder bleiben und arbeiten. Sollten sie mal ihre sonnigen Länder verlassen, um als Weltbürger*innen nach Europa zu reisen, dann würden sie es nur für die Dauer ihres Urlaubs machen.

Nun in dem Moment, wo die Protestbewegungen gegen den steigenden Extremismus in Deutschland tausende Menschen in vielen Orten auch in Sigmaringen auf die Straßen treiben, soll dieser Artikel ein Beitrag zum Nachdenken, Toleranz und Zusammenleben anregen.

Zum Schluss möchte ich den Menschen, die sich aus Hass gegen Migrant*innen radikalisieren und sich in rechtsextremen Parteien engagieren, ein ivorisches Sprichwort mitgeben: Aus Hass auf die Mücke stimmte die Kakerlake für den Einsatz von Insektiziden. Am Ende erlagen beide dem Insektizid.

Die Moral dieses Sprichworts könnte man auch aus der deutschen Geschichte entnehmen. Es ist notwendig die eigene Stimme gegen jede Form von Diskriminierung zu erheben, um sie im Keim zu ersticken, solange es noch Zeit ist. Aus diesem Grund begrüße ich die Protestbewegungen, die in letzter Zeit in ganz Deutschland gegen das Abdriften in den Extremismus stattfinden. Jeder Mensch sollte sich betroffen fühlen und sich gegen diesen makabren Plan einer „Remigration“ stellen, denn er ist nicht mehr und nicht weniger als eine geplante Deportation von einem Teil der deutschen Bevölkerung. Last but not least möchte ich meine Ausführungen mit den Worten des deutschen Theologen und Widerstandskämpfers Martin Niemöller beenden:

"Als die Nazis kamen, um die Kommunisten zu holen, habe ich nichts gesagt, ich war kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich nichts gesagt, ich war kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nichts gesagt, ich war kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, war niemand mehr übrig, der protestieren konnte."[2]

Kafalo Sékongo Eine Welt-Fachpromotor für Globales Lernen Internationale Bildungspartnerschaften
EPiZ, Wörthstraße 17, 72764 Reutlingen

 

[1]Landeserstaufnahmestelle (LEA): Bezeichnung einer offiziellen Anlaufstelle und Unterkunft für Asylbewerber*innen. Dort werden auch die Asylanträge gestellt.

[2] https://encyclopedia.ushmm.org/content/de/article/martin-niemoeller-first-they-came-for-the-socialists#Das%20Zitatclick%20Here%20to%20Copy%20A%20Link%20to%20This%20Section%20Link%20Copied (Besucht am 16.02.24)

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